Einfluss kritischer Lebensereignisse auf die Körper- und Bewegungskarriere syrischer Männer in Deutschland

Autor: Hackenbroich, Tanja
Jahr: 2018

Masterarbeit, Fachbereich Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaft, 133 Seiten, dt.

 

Zusammenfassung:

Als Reaktion auf das Ankommen tausender Menschen aus Syrien nach Deutschland hießen zahlreiche Sportgruppen in Deutschland seit dem Sommer 2015 Geflüchtete willkommen. Trotz der großen Bereitschaft, Sportangebote an die Bedürfnisse der Geflüchteten anzupassen, besteht jedoch bis heute keine konkrete Vorstellung von dem syrischen Sportsystem, dem alltäglichen Sporttreiben der Geflüchteten in ihrem Heimatland oder den spezifischen Bedürfnissen im neuen Sportumfeld. Vor allem ist gänzlich unbekannt, ob die kritischen Lebensereignisse „Krieg“ und „Flucht“ das Sportengagement der geflüchteten Syrer eventuell grundlegend verändert haben. Mit Hilfe problemzentrierter Interviews mit drei männlichen, geflüchteten Syrern wurde in dieser Masterarbeit – zusätzlich zum Sportengagement in Syrien - der Einfluss, sowie die Auswirkungen der oben genannten kritischen Lebensereignisse auf die individuelle Sportkarriere beleuchtet. Als theoretischer Rahmen hierfür wurde neben der Sozialisationstheorie (Hurrelmann, 2002) und dem darin eingebetteten Konzept der Körper- und Bewegungskarriere (Baur, 1989), die Theorie kritischer Lebensereignisse nach Filipp (1995) behandelt: Demzufolge sind kritische Lebensereignisse durch eine „Veränderung der (sozialen) Lebenssituation der Person gekennzeichnet [...] und [...][müssen] mit entsprechenden Anpassungsleistungen durch die Person beantwortet werden“ (Filipp, 1995, S.23).

Die Interviews zeigten, dass – gemäß der Theorie von Filipp (1995) und der Forschung von Burrmann et al. (2015) – Sportengagements ständig mit der aktuellen Lebenssituation und dem lebenszeitlichen Verlauf mit seinen spezifischen Anforderungen und Erwartungen in Einklang gebracht werden müssen: Die Geflüchteten berichteten hauptsächlich von verschiedenen Fußball-Spielformen in Kleingruppen auf der Straße oder auf privaten Sportplätzen zu Zeiten des Bürgerkrieges in Syrien. In Deutschland diente sowohl der organisierte als auch der informelle Sport zunächst als Kontaktbörse und das freudvolle Spiel in den jeweiligen Unterkünften dem körperlichen und emotionalen Ausgleich. Mit zunehmender Selbstbestimmtheit und den damit in Deutschland einhergehenden Anforderungen und Pflichten, rückte der Sport wieder in den Hintergrund und musste dem Erlernen der Sprache, der eigenen Psychotherapie oder behördlichen, sowie beruflichen Angelegenheiten Vorrang gewähren. Im Zuge dieser Forschung wurde deutlich, dass die kritischen Lebensereignisse „Krieg“ und „Flucht“ zwar nicht direkt die Sportkarrieren der geflüchteten Männer beeinflusst haben, die Auswirkungen und Folgen derer jedoch eine Störung des bisherigen individuellen Person-Umwelt-Passungsgefüges nach sich zogen. Die daraufhin notwendige Reorganisation dessen ließ das Sportengagement zeitweise nachrangig erscheinen. Alle drei Syrer freuen sich auf eine Wiederaufnahme ihres Engagements, sobald diese Reorganisation gänzlich vollzogen ist und erkennen ihre neu gewonnenen Möglichkeiten im deutschen Sportsystem:

„Achmed: Wenn ich im Schwimmbad bin, ich vergesse ich alles“ (Achmed, §158).

„Interviewende: Könntest du dir vorstellen, es nochmal in einem Verein zu probieren?

Amir: Hoffentlich ja. Wenn ich Zeit habe, ohne Druck oder so. Hoffentlich. […] Oder eine neue Art von einem Sport. Es zu lernen. Hier gibt es alles“ (Amir, §295-298).

„Ali: Ja. Wichtig ist, Deutschland hat mich etwas geändert, weil die Leute hier in Deutschland sie interessieren sich über den Sport mehr als in Syrien. Dieser Punkt hat mir ein gutes Gefühl, dass ich vielleicht in Zukunft mein Talent nochmal aufbauen kann. Vielleicht kann ich in einer Mannschaft spielen“ (Ali, §152).

Nach und nach wurden für Probleme, die im Zuge der Integration Geflüchteter in den deutschen Sport erstmals aufgetreten sind, Lösungen gefunden (bspw. die Ausweitung der Unfall- und Haftpflichtversicherung auf die Gruppe der geflüchteten Menschen). Auch das gemeinsame Sporttreiben entwickelte sich in den Vereinen konstant weiter. Dennoch ist es jetzt an der Zeit, die Bedürfnisse geflüchteter Menschen und die Folgen kritischer Lebensereignisse mittels weiterer Forschung genauer zu beleuchten, um dem deutschen Sportsystem einen neuen Impuls für eine wertvolle und bedürfnisorientierte Integration geflüchteter Menschen zu geben. Nur dann kann das volle Potenzial des Sports „sowohl für die Integration in die Vereinsgemeinschaft als auch für die Integration in andere gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Bereiche“ (DOSB, 2014, S.10) ausgeschöpft werden. Nur dann können Menschen wie Ali, Amir und Achmed den Sport mit all seinen Facetten nicht nur für sich und ihre Bedürfnisse nutzen, sondern auch voll und ganz genießen.